Familienstiftungen Paul Wolfgang Merkel und Werner Zeller
 Unsere Familie

"Johannes" Franz Jakob Oskar MERKEL

"Johannes" Franz Jakob Oskar MERKEL

männlich 1910 - 1970  (60 Jahre)

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  • Name "Johannes" Franz Jakob Oskar MERKEL 
    Spitzname Hansl 
    Geburt 26 Mai 1910  Elberfeld,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Geschlecht männlich 
    Beruf Kaufmann 
    Merkel-Referenznummer 5-1.9.9.1 
    Tod 27 Nov 1970  Darmstadt,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort 
    Personen-Kennung I280  Merkel-Zeller
    Zuletzt bearbeitet am 23 Mai 2023 

    Vater Dr.chem. Benno MERKEL,   geb. 02 Feb 1882, Nürnberg,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ortgest. 25 Okt 1929, Elberfeld,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort (Alter 47 Jahre) 
    Mutter Pauline VOLLETH,   geb. 14 Okt 1886, Nürnberg,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ortgest. 13 Jul 1966, Darmstadt,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort (Alter 79 Jahre) 
    Eheschließung 14 Apr 1909 
    Notizen 
    • Wir Zwillinge
      Bennos drei Söhnen, meinen Neffen, in dankbarer Erinnerung gewidmet,
      Georg Merkel,
      geschrieben im Oktober 1966 (in meinem 85 Lebensjahr)
      abgeschrieben, gelesen und korrigiert am 27.11.1995 gez. Friedrich
      eingescannt von Eberhard Brick am 18.12.2002

      Wir, mein um eine Viertelstunde älterer Zwillingsbruder und ich, wurden am Donnerstag, den 2. Februar 1882 früh um 1 Uhr und 1 '/4 Uhr, hier in Nürnberg im elterlichen Haus, Karolinenstraße 7, geboren als neuntes und zehntes Kind des damaligen Bezirks- und städtischen Krankenhausarztes Dr. Gottlieb Merkel und seiner Frau Emma, geb. Schwarz. Drei Kinder (Christoph, Gottlieb und Wilhelm) waren schon vor unserer Geburt gestorben, so dass wir nun sieben Kinder waren. Die Mutter hat noch vor ihrem Tod sich darauf gefreut, die drei in der Ewigkeit wiederzusehen; so tief war ihr Schmerz über diese frühen Todesfälle gewesen. Bei meiner Geburt glaubte man es zuerst mit der Nachgeburt zu tun zu haben; ich musste dann auch erst tüchtig geschlagen werden, bis ich den ersten lebenswichtigen Schrei tat, und ich soll so klein gewesen sein, dass ich in einen Maßkrug ging. Am ersten März des gleichen Jahres wurden wir von Pfarrer Heller in Heilig-Geist getauft, der ältere auf den Namen Benedikt und ich auf die Namen Georg William. Die Paten meines Zwillingsbruders waren Onkel Benno Schwarz, dessen Frau Rosa - eine höchst originelle Frau - die Schwester von Onkel Wilhelm Merkel - dem Frauenarzt hier - und Base von unserem Vater war, und dann der Bezirksarzt Dr Karl Dörfler in Weißenburg, ein sehr naher Freund unseres Vaters. Meine Paten waren der reformierte Pfarrer Georg Bossert von St. Martha und unser Vetter mütterlicherseits Willy Gibsone, damals Student der Theologie, dessen Eltern - die Mutter war die älteste Schwester unserer Mutter - hier am Hübnersplatz wohnten. Schon von wegen der Paten erschien mir später mein Zwillingsbruder bevorzugt. Onkel Schwarz war Fabrik- und Specksteingrubenbesitzer und sehr vermögend. Seine Patengeschenke waren für unsere Begriffe fürstlich, zum Beispiel eine richtige Dampfmaschine und Dampflokomotive aus reinem Messing, die man mit einer Spiritusflasche in Gang bringen konnte. Benno ließ mich auch damit spielen. Ich beneidete ihn deshalb, war jedoch keineswegs neidisch auf ihn, was mir überhaupt nicht lag. Zur Konfirmation bekam Benno von ihm eine goldene Uhr. Meine Paten dagegen waren finanziell bescheiden dran, was man natürlich auch an den Geschenken bemerkte. Ich erhielt zur Konfirmation eine ganz einfache silberne Uhr, schon zu Weihnachten vorher, damit ich nicht an der Konfirmation zu sehr abgezogen würde und unser Vetter Willy schenkte mir dazu einen Ring mit unserem Familienwappen, den ich später meinem Paten und Neffen Georg Merkel, Arzt in Altenbruch bei Cuxhaven, schenkte. Dass mein Bruder eigentlich Benedikt hieß und getauft wurde, erfuhr ich erst viel später, denn wir nannten ihn alle von Anfang an Benno. Zu meinen Paten kamen die Eltern dadurch, dass Pfarrer Bossert ein Studien- und späterer Reisefreund unseres Vaters war, da ihn in den ersten Jahren natürlich weder die Mutter noch wir Kinder auf seinen Urlaubsreisen begleiten konnten. Pfarrer Bossert war Pfälzer und zeigte in Gesellschaft einen höchst schlagfertigen Humor. Die Mutter und er verstanden sich besonders gut. Mir gegenüber war er nur ernster und strenger Pädagoge. Er sah wohl frühzeitig mein zerfahrenes und verträumtes Wesen. In der damaligen Zeit war er unter den Nürnberger Pfarrern ohne Zweifel der einzige wirkliche und beste Theologe, stark beeinflusst durch den bedeutenden reformierten Theologen Menken. Pfarrer Bossert legte sehr viel Gewicht auf das Alte Testament und die Kenntnis der hebräischen Sprache, was mir, namentlich im zweiten theologischen Examen, insofern sehr von Nutzen war, als ich da ausgerechnet über den 137. Psalm, den mich mein Pate hatte auswendig lernen lassen, von Dekan Summa, der wenig vom Hebräischen verstand, examiniert wurde. Pfarrer Bossert hatte eine Zeit lang auch die Leitung der höheren Töchterschule, bis er in den neunziger Jahren beim Erwachen des konfessionellen Bewusstseins durch Pfarrer Heinlein von St. Egidien ersetzt wurde. Unsere Mutter ging sehr gern in Bosserts Predigten in die Marthakirche, die immer sehr voll war. Diese hatten auch ohne Zweifel einen klassisch strengen Stil. Uns Kindern lagen sie weniger. Es fehlte darin für uns der freudige, jugendliche Ton. Den brachte in unsere Kinderschar mein Pate Willy Gibsone, ein von uns allen besonders geliebter Vetter, den ich innigst ins Herz geschlossen hatte und zu dem ich - er war etwa einen Meter neunzig groß, sehr schlank und trug einen feinen Schnurbart - höchst beglückt emporsah.
      Doch zurück zu unserer ersten Kindheit. Wir waren als Zwillinge natürlich etwas besonderes. Die Mutter dachte manchmal, wie sie später erzählte: ,Wie kann man sich über e i n Kind so freuen! So Zwillinge im Wagen oder an den Händen sind doch erst das Allerschönste!" Auch der Vater war mit uns damals ganz Kind und ließ sich gern von uns in den Bart kraulen. Benno war freilich zurückhaltender als ich, der ich von Anfang an viel weicher and liebesbedürftiger war. Er war überhaupt aus härterem Holz geschnitzt und nickt so stark vom Gefühl bestimmt wie ich. Körperlich waren wir beide in den ersten Kinderjahren etwas schwächlich. Deshalb schickte uns der Vater mit der Mutter einmal nach Bad Schwäbisch Hall and dann nach Traunstein, wo wir uns beide durch Solebader stärken sollten. In Traunstein wohnten wir bei dem mit unserem Vater bekannten Bezirksarzt Dr. Leonbacher, dessen einer Sohn katholischer Geistlicher war. Dort in Traunstein lernten wir auch endlich schwimmen, was wir dann häufig in Nürnberg in der Pegnitz oder im Wildbad von Bromig auf der Hinteren Insel Schütt taten. Besonders letzteres war mir ziemlich unheimlich wegen der Düsterkeit des Bades and des dumpfen Wellenschlages bzw. des dunklen Wassers. In den großen Ferien nahm uns die Mutter irgendwohin aufs Land mit. Besonders erinnere ich mich an einen Aufenthalt bei Rückersdorf auf der Ludwigshöhe, wo mit uns das sehr nette Mädchen Helene Hartel war. Sie war etwa 15 oder 16 Jahre alt, die Tochter eines Nürnberger Oberlandesgerichtsrates, and spielte reizend mit uns im Wald. Sie baute da entzückende kleine Mooshütten and gab sich viel mit uns ab. Es war das erste fremde Mädchen, das mich besonders anzog. Erst viele Jahre später verlor ich die Verbindung mit ihr. Noch heut denke ich gern und dankbar an sie. Ein anderes Mal waren wir in Muggendorf in der Fränkischen Schweiz. Als wir das in der dritten Klasse der städtischen Handelsschule unserem Lehrer Wetschureck erzählten, frug er uns , ob wir da viele ,Mucken" gefangen hätten, was wir amüsiert verneinten. Die städtische Handelsschule am Lorenzer Platz war die Vorschule, in die wir 1888 geschickt worden waren. Meines Erachtens waren wir noch zu unreif dafür. Wir gingen ungern in die Schule und taten uns schwer in ihr, auch wenn die drei Lehrer dort meiner Erinnerung nach gar nicht schlecht waren. Aber wohl unserer Schwächlichkeit wegen blieben wir immer unter den letzten Schülern. So blieb Benno zweimal später in der zweiten and dritten Lateinklasse und ich in der sechsten Gymnasialklasse einmal sitzen. Ich half mir, um fortzukommen und bestehen zu können, viel mit Spickzetteln and Abschreiben oder durch Unterstützung freundlicher, besserer Mitschüler. Auch die Nachhilfestunden, die uns der Vater bei anderen Lehrern geben ließ, halfen nicht viel. Ich selbst war wohl sehr verträumt und zerfahren and nahm es mitunter mit der Wahrheit nicht ganz genau. Dabei las ich immer gern und viel andere Sachen, die mich mehr interessierten, so z.B. Alfons Daudet, Gustav Freytag und Felix Dahn oder Indianergeschichten wie den Lederstrumpf and Onkel Toms Hütte. Besonders machten wir uns über die Karl May Geschichten im ,Guten Kameraden". Benno war, namentlich später, konzentrierter and reifer. Ich erinnere mich noch, wie er mich an unserem Konfirmationstag im April 1896 zurechtwies, als ich da Indianergeschichten, die mir ein Schulfreund geschenkt hatte, las. So hat er mich manchmal auf manches Ungehörige, das ich tat oder tun wollte, als unschicklich hingewiesen. Er hatte von Anfang an ein besseres Gefühl für das, was recht and korrekt war. Ihm war etwas Vornehmes zu eigen, weshalb man ihn später gern den „Baron" nannte. Freilich hatte er dabei weniger Verständnis und Gefühl für andersgeartete, namentlich niedrige, kleine und schwächliche Menschen. Unsere kleinen Nichten und Neffen trätzte er gern and viel, während ich eigentlich stolz war auf die Würde als, Onkele", wie sie uns nannten.

      Ganz eigen waren unsere Beziehungen zu unseren größeren Geschwistern. Mit Heiner, der nur viereinviertel Jahre älter als wir war, waren wir mehr zusammen. Er war ein schwieriger Bub. Der Vater hat ihn einmal vor unseren Augen entsetzlich verhaut, was mir einen sehr bedrückenden Eindruck machte und das Bild des Vaters mir stark beeinträchtigte. Wir haben oft miteinander gestritten, wodurch dann bisweilen die „Gas-Strümpfe" und die Lüster kaputtgingen, was dann gewöhnlich einen Mordsspektakel gab. Natürlich kehrte er uns Jüngsten gegenüber den Älteren heraus, was wir uns nicht recht gefallen lassen wollten, besonders weil er als „Schwarzes Schaf' in der Familie galt. Mit den vier älteren Geschwistern hatten wir keine rechten inneren Beziehungen außer denen, dass sie glaubten uns erziehen zu müssen. Das hat namentlich Benno sehr geärgert. Hier tat sich besonders Johannes hervor, Benno konnte es ihm später nie vergessen, dass er gegen sein Verhältnis zu Pauline die Partei seiner Schwiegermutter ergriff, die absolut wünschte, dass Pauline einen Geschäftsmann heiraten sollte, der dann das große Volleth'sche Geschäft hätte übernehmen können. Ich habe unter diesen pädagogischen Versuchen der älteren Geschwister nie so gelitten und erkannte gern ihre Überlegenheit an. In Emilie, dem besonderen Liebling des Vaters, sah ich das Ideal eines Mädchens und einer jungen Frau und Mutter. Sie war von vielen umworben, litt aber an einem richtigen Vaterkomplex, der sie alle abweisen ließ, bis unser Schwager Karl Panizza kam, der ihr in seiner schmucken Chevauleger-Offiziersuniform, seiner hohen Intelligenz und seinem Alter - er war siebzehn oder achtzehn Jahre älter als sie - so imponierte, dass sie sich auf einem Ball des Herrn von Puscher im Jahre 1895 sofort in ihn verliebte. Obwohl er damals erst Gerichtsreferendar war, - er war vorher Kaufmann und studierte erst später - entschloss sich der Vater schweren Herzens die Einwilligung zur Heirat zu geben, da er in guten, geordneten finanziellen Verhältnissen lebte. Sein verstorbener Vater hinterließ seiner Witwe den „Russischen Hof' in Bad Kissingen, damals dem vornehmsten Hotel. Die Mutter Panizza war eine hochintelligente, ihrer selbst sehr bewusste, eigenwillige Persönlichkeit, die uns alle dadurch auffiel, dass sie, obwohl sie damals schon hoch in den Siebzigern stand, bei der Hochzeit am 15. September in einem vornehmen, weißseidenen Kleid erschien. Später wird von dieser Hochzeit und dem, was darauf folgte, noch weiter zu berichten sein. Vorerst möchte ich noch auf eine mir immer wieder merkwürdig erscheinende Verschiedenheit in unserm großen Geschwisterkreis hinweisen. Die größeren Geschwister waren mit der Mutter sehr begeistert für alles Nationale und Militärische und für das äußere Ansehen und die äußere Macht des Reiches. Wir drei Jüngsten (Heiner, Benno und ich) standen dem allen mehr kritisch gegenüber. Freilich wurde auch von uns Bismarck in seiner überlegenen Staatskunst und Leistung unbedingt anerkannt und hoch geschätzt. Aber der politisch in unseren bürgerlichen Kreisen gezeigten, restlosen Begeisterung für Kaiser und Reich standen wir mehr ablehnend und fremd gegenüber. Volk und Vaterland, das auch wir liebten und dessen wir uns erfreuten, waren uns mehr ein geistiger Begriff, etwa im Sinn unserer großen Klassiker. Das Getu um die äußere Größe und Macht von Kaiser und Reich erregte unseren Widerspruch. Nur mehr aus Neugierde sahen wir uns die äußeren Aufzüge an, auch wenn wir ganz gern den Aufmarsch zum 1. September beim Sedansfest ansahen, wo - den Veteranen voran - der hünenhaft große Geschäftsführer der Merk'schen Großhandlung, in deren Haus wir wohnten, mit seinem großen Vollbart die schwere Fahne trug und schwang. Besonders ist mir von jener Hochzeit Emiliens noch in Erinnerung, dass unsere originelle, gute Clär die Idee hatte, uns beide Zwillinge als Sebalder und Lorenzer Kirchturm auftreten zu lassen. Emilie war in Sebald getauft und wurde nun in Lorenz getraut und meines Wissens war sie dort auch 1884 konfirmiert worden. Bei der Silbernen Hochzeit der Eltern am 30. Mai 1890 dachte sich Clär eine pantomimische Darstellung des alten Bildes von der Familie Paul Wolfgangs aus, wo wir beide die kleinen, stehenden Kinder - unseren Großvater Johann und dessen Bruder Sigmund - zu markieren hatten. Ich sehe noch, wie damals die anwesenden Großonkel Karl und Gottlieb - 81 und 77 Jahre alt - zu Tränen gerührt wurden. Auch unsere anderen Geschwister taten damals mit. Wen sie damals darzustellen hatten, weiß ich nicht mehr. Besonders ist mir von dieser Silbernen Hochzeit noch in Erinnerung, wie stolz wir waren, dass wir zum ersten Mal mit den Großeltern aufbleiben und das Fest mit zu Ende feiern durften. Die vielen schönen Feste und Gastereien, die immer gern von den Eltern gegeben wurden, zeichneten sich besonders aus durch die Tischreden, die dabei der Vater hielt und in denen seine ganze Wärme und Feinsinnigkeit, wie seine Belesenheit und sein Humor hervortraten. Sonst kannten wir ihn in seiner unantastbaren Autorität, die uns Kinder schweigen ließ, als ernst und streng. Er redete bei Tisch gewöhnlich nicht viel und war wohl mit seinen vielen öffentlichen und sonstigen Verpflichtungen beschäftigt oder darin ermüdet. Auch setzten ihm oft Neuralgien und Nierenkoliken zu, sodass auch die Mutter mit Argusaugen darüber wachte, dass er nicht zu viel durch unser Kindergeschrei gestört wurde. Hinsichtlich Ordnung und Pünktlichkeit konnte er sehr pedantisch und streng sein. So mussten wir jeden Morgen um 7 Uhr beim Kaffeetisch sein, wo dann gewöhnlich der Vater die Morgenandacht hielt mit den Losungen und einem Gebet aus den „Samenkörnern" von Löhe und später aus dem „Pigerstab" von Spengler. Diese verstanden wir weniger als die Abendgebete der Mutter mit einem Gesangbuchlied. Am Sonntag verlas der Vater bei der Andacht das altkirchliche Evangelium samt der Epistel aus seiner alten Hochzeitsbibel. Auch wenn wir das alles nicht verstanden oder uns, namentlich bei Löhe, über die Gebete verwunderten, erhielt sich doch gewiss auch dadurch bei uns allen die feste religiöse Sitte und kirchliche Beziehung. Gerade diese Gewöhnung stieß keinen von uns ab und hat sich bis ins späte Alter bei uns allen lebendig erhalten und fortgesetzt. Er war ein rascher Arbeiter und sehr fleißig. Viel Geduld hatte er nicht. Bei dummen Reden oder Floskeln bekam man gleich eins hinter die Ohren. Meine zerfahrene, phantastisch-träumerische Weise machte ihm zu schaffen. Oft sagte er zu mir: „Du bist ein Wolkenschieber." und wenn ich sagte: „Geld ist Dreck.", so erwiderte er nur lakonisch: „Aber Dreck ist kein Geld.". Er meinte es wohl gut in seiner Strenge und sagte zu mir einmal: „Du musst wissen, dass dein Vater dein bester Freund ist." Aber ich sah es nicht recht ein und wehrte mich im Stillen gegen seinen Druck. Als ich einmal mit vierzehn Jahren im dunklen Gang auf seinen Bauch stieß und zurückprallte, hat das mir schwer zugesetzt, weil ich dummer Bub glaubte, schon erwachsen und groß und ihm gewachsen zu sein. Natürlich hat mir das eine ordentliche Watsche und den Ruf des Vaters eingebracht: „Dummer Bu', siehst du nicht, dass ich daherkomme! Mach doch deine Augen auf!" Aber es war wirklich so dunkel, dass man nichts sehen konnte. Ich glaube nicht, dass Benno ähnliche Erfahrungen mit Vater gehabt hat. Er war innerlicher robuster und einsichtiger. Aber gerade darum erscheint mir in der Erinnerung immer als ein besonderes Erlebnis unser Abendmahlsgang. Dass da mit uns Kindern der Vater in der Beichte in gleicher Weise angesprochen wurde und dann mit uns am Altar niederkniete, das beeindruckt mich noch heute, wie ebenso, dass wir alle zuvor zuhause mit einem Kuss uns gegenseitig Verzeihung versicherten. Er, der Vater, die unerschütterliche Autorität, und wir Kinder.
      Doch ich will nun wieder auf unsere beiderseitigen Zwillingsverhältnisse zu sprechen kommen. An einen besonderen Streit zwischen uns erinnere ich mich nicht. Dass wir gern am Abend vor dem Schlafen in den Betten uns mit den Kissen bewarfen, ist ein Jux, den wohl alle Kinder kennen. Einmal, als die Eltern zu einer Einladung fort waren, ist es fast gefährlich gewesen: im Schlafzimmer der Eltern zündelten wir herum, dass die Kissen anbrannten. Wie die gute Clär, das vertuscht hat, weiß ich nicht mehr. Aber die Eltern haben, soviel ich weiß, nie etwas davon erfahren. Besonderes Interesse erregte bei uns natürlich, als wir etwa 1891 das erste Telefon bekamen. Da erinnere ich mich an eine gelungene Geschichte. Unser Vater war in Bad Reichenhall; Tante Laura Gibsone, die älteste Schwester der Mutter, kam wegen irgendeiner Erkrankung in ihrem Hause aufgeregt zu uns, um sich vom Vater Rat zu erholen. Die Mutter telefonierte nach Reichenhall und ließ den Vater ans Telefon rufen. Dann rief sie die Tante und gab ihr den Hörer. Als sie des Vaters Stimme hörte, war sie so perplex, dass sie den Hörer vor Schreck fallen ließ, und das Gespräch brach ab. - Wir benutzten das Telefon natürlich nicht, weil keiner der Bekannten eines hatte. Es war uns auch jede Berührung streng verboten. Wir staunten aber das Ding doch mächtig an und wagten uns diesem Zauberwerk kaum zu nähern.
      Wir wurden von den Eltern sehr sparsam und knapp gehalten. Zuerst bekamen wir nur drei Pfennige pro Tag für eine Salzstange in der Pause. Manchmal schielten wir dabei die süßen Backwaren, die von dem Bäcker noch angeboten wurden, verlangend an. Später erhielten wir eine Mark Taschengeld für den Monat. Über dessen Ausgaben mussten wir genau buchführen und wurden vom Vater regelmäßig kontrolliert. So machte es der Vater auch mit dem Haushaltsbuch der Mutter. Da gab es manche Tränen, obwohl die Mutter in jedes Haushaltsbuch am Anfang die Worte „Mit Gott" hineinsetzte. Hinsichtlich alles dessen sagte der Vater oft: „Beim Geld hört jede Gemütlichkeit auf." Als Kaufmannssohn war er in allen diesen Dingen peinlich genau, zumal er 1874 den Zusammenbruch des väterlichen Kolonial- und Bankgeschäftes unter dem Verlust alles Ersparten miterlebt hatte. Die Geschwister des Vaters waren mit allen Ersparungen eingesprungen, um die kleineren Gläubiger verlustlos zu entschädigen. Das gelang denn auch auf diese Weise, kostete ihnen aber ihr Vermögen. Die beiden ledigen Schwestern des Vaters, Tante Luise und Margarete, die in Nürnberg am Kirchenweg wohnten, brachten sich dann mit der Vertretung von Bielefelder Leinen und Pfefferminzplätzchen durch. Die Tante Malch, wie Margarete gewöhnlich genannt wurde, konnte das nie der Familie Ludwig Merkel, des älteren Bruders vom Vater, nach dessen Tod der Zusammenbruch des Geschäftes geschah, vergessen. Das Großkolonial- und Bankgeschäft Lödel/Merkel, wie es hieß, war eben hauptsächlich nach dem Osten orientiert und litt dann schwer unter dem Ende des sechsundsechziger Krieges. Auch auf der Universität wurden wir ziemlich knapp gehalten: 100,-- Mark Wechsel in Erlangen und in Berlin 120,-- M; damit mussten alle Ausgaben bestritten werden. Als ich von Erlangen nach Berlin ging, hat der Vater mich nach meinen Schulden gefragt. Ich vergaß dabei - ob absichtlich oder unabsichtlich, weiß ich nicht mehr - , die 24,-- M Schulden für Schnäpse bei Scholl, unserem Bubenreutherhaus gegenüber. Als der Vater später durch eine Einforderung, die in seine Hände kam, davon erfuhr, gab's natürlich einen großen Stunk. Er sah in mir den verlorenen Sohn. Nach vielen Jahren aber sagte er mir: „Du warst für mich von Deinen Brüdern der Billigste im Studium." Wie beneidete ich in Berlin meinen Conleib Glarus, weil er von dem dortigen Konto seines Vaters einfach abheben konnte, was er wollte und brauchte. Er hat das übrigens nie missbraucht und war unter anderem Pate des damaligen Reichsfinanzministers von Miquel und verkehrte dort wohl wie das Kind im Haus.
      Nach der dritten Lateinklasse kam Benno ins hiesige Realgymnasium. Aber unsere Freunde in der jeweiligen Schule und später auf den verschiedenen Universitäten blieben auch die Freunde des anderen. Ich erinnere mich namentlich an Hermann Voit, den späteren Arzt, oder Fritz Leuchs, Bennos späteren Kollegen in Elberfeld, der dann dort in Bennos Haus unsere Nichte Martha Hennighaußen kennenlernte und heiratete. Es war bis zu seinem Tod eine sehr glückliche und harmonische Ehe. Fritz Leuchs war - wie auch später Erich Merkel - durch Bennos Vermittlung in die I.G.-Farben gekommen. Bezeichnend für die beiderseitige Verschiedenheit von uns Zwillingsbrüdern war, wie Benno zeitlebens sich daran stieß, dass Leuchs etwas wenig auf das Äußere gab, während mich das nicht genierte und ich mich nur an dessen nüchtern klarem, freundlichem und wissensreichem Wesen erfreute. Von Bennos Studium in München möchte ich noch erwähnen, wie er verschiedene Male und gern als Statist im Hoftheater mit anderen Studenten sich heranziehen ließ. Dadurch wurde er auch einmal mit der damals berühmten Barfußtänzerin Isadora Duncan bekannt und entflammte sich so für sie, dass er sich von ihr ein Bild mit eigener Unterschrift erbat. Ich habe diese entzückende Tänzerin, die wenige Jahre danach durch einen Unfall ums Leben kam, auch auf Bennos Veranlassung hin in Berlin ein paar Mal in ihren Aufführungen gesehen. Es war ein künstlerisch bedeutsames Erlebnis; aber zu einer persönlichen Berührung zwischen ihr und mir kam es nicht. Dazu war ich zu scheu und zu schüchtern. Doch ging ich in Berlin auch viel ins Theater und sah so manche hervorragende Aufführung, etwa von Gerhart Hauptmann, Maxim Gorki, Shakespeare und Richard Wagner. In besonderer Erinnerung ist mir der damals berühmte Adalbert Matkowski und Tilla Durieux, der man damals eine Poussage mit dem Kronprinz Wilhelm nachsagte.
      Ein sehr erfreulicher Gewinn für uns beide wurde uns geschenkt durch die Heirat unserer ältesten Schwester Grete mit dem Kaufmann Franz Hennighaußen. In ihm und seinem Vater traten uns, ich möchte fast sagen das erste Mal, Menschen entgegen, die uns junge Leute nicht als unreife und erst noch zu erziehende Kinder ansahen, sondern mit uns wie gleich zu gleich verkehrten und uns in unserem jugendlichen Drang ganz ernst nahmen. Dabei war Schwager Franz doch 22 Jahre älter als wir und sein Vater noch 5 Jahre älter als der unsrige. Sie nahmen uns viel auf Spaziergänge mit und öffneten uns die Augen für die Schönheit der Natur. Auch für die Musik weckte die musikalische Familie uns Herzen und Sinne. Unsre in diesen Jahren besonders empfängliche Natur verdankt ihnen viele neuen Eindrücke, die wir von zu Hause her wenig kannten. Denn Spazierengegangen wurde bei uns nicht viel. Der Vater hatte keine Zeit dafür und die Mutter war auch zuhause samt unserer Clär zuviel beschäftigt. Auch zu religiösen Gesprächen kam es mit dem alten Herrn, der wie sein Sohn, unser Schwager Franz, Presbyter in der reformierten Gemeinde war. Ich lernte da zum erstenmal erkennen, wie schwer es für einen im tätigen Geschäftsleben stehenden Menschen war, das eigentliche Wesen des Christentums und der Kirche zu erfassen und ihre komplizierten Lehrmeinungen zu verstehen und anzunehmen. Auch unser Vater rätselte manchmal in seinen kranken Tagen mit mir daran herum, aber es war selten. Über Sitte und Gewöhnung und über einen allgemeinen Vorsehungsglauben sind sie alle nicht viel hinausgekommen. Wie sollte es auch anders sein bei einer Generation, die im allgemeinen nur das Physisch-Psychische kannte und der alles „Metaphysische" ganz fernlag. Nur das Sittliche und Historische wurde bei ihnen grossgeschrieben. Aber darin zeigten sie sich auch wirklich groß! Ist das nichts? So wurde ich von Anfang an duldsam und weit- und warmherzig. So hat z.B. unser Vater nie geduldet, dass wir gegenüber niedriger Stehenden oder unserem Schuhputzer oder Auslaufer oder dem Personal der Angestellten gegenüber unseren Stand herauskehrten. Ich weiß noch, wie Benno einmal wegen seines hochfahrenden Benehmens gegen den Auslaufer Wild vom Vater eine kräftige Ohrfeige erhielt. Kleinigkeiten, wird man sagen! Und doch, ist das nichts? Oder wenn der Vater uns sehr scharf zurechtwies, wenn wir den alten Juden Meinzer uns gegenüber in der Brunnengasse bei seiner Zeitungslektüre mit einem Spiegel blendeten und uns dabei frech gaudierten. Kleine alltägliche Dinge erziehen oft mehr als große pädagogische Künste und moralische Standpauken.
      Noch muss ich nachholen, dass wir beide fast jedes Jahr zwischen 1896 und 1906 bei dem Studienfreund unseres Vaters, Dekan Burger, in Markt Erlbach zu längerem Besuch waren, wie früher auch unsere großen Brüder. Er hatte fünf Söhne in jungen Jahren verloren und nur drei größere Töchter im Alter unserer großen Geschwister. Auch da erhielten wir beide manchmal ordentliche Zurechtweisungen. Ich, weil ich im Schachspiel mit einer der Töchter unfair war; Benno, weil er die französische Erzieherin der Töchter beim Kroquetspiel von hinten anstieß, sodass der Ball woanders hinflog. Dekan Burger gab uns jedesmal eine ordentliche Ohrfeige. Aber abends ließ er uns dann das Abendlied zur Andacht lesen. Dagegen hat mir eine andere Geschichte von Benno starken Eindruck gemacht. Am Mittwoch Nachmittag war gewöhnlich auf der Eichenmühle bei Markt Erlbach Kegeln. Eines Tages stieß sich Benno beim Kegeln einen langen Spieß unter den Nagel des rechten Fingers. Er erbleichte und war der Ohnmacht nahe, aber er stieß weder einen Schrei aus, noch weinte er darüber. Ich bewunderte ihn nicht wenig deshalb, denn ich hätte mich mordsmäßig dabei aufgeführt. Man kann sich ja denken, wie weh das tut! Aber Benno war eben nicht so wehleidig wie ich.
      Einige Ferienfahrten, die wir beide miteinander machten, möchte ich doch noch erwähnen. 1898 machten wir allein eine herrliche Fußwanderung in den Bayrischen Wald, wobei wir den Rachel, den Lusen, den Arber, den Blökensteinsee, sowie den Schwarzen See und den Dreisessel besuchten. In der dortigen Hütte übernachteten wir. Unterwegs hatte sich ein katholischer Geistlicher angeschlossen. Im Gespräch wies er uns auch begeistert auf die Schriften von Adalbert Stifter hin. Als wir heimkamen, kaufte ich mir gleich zwei Stifter­Bände in der Reclam-Ausgabe. Noch heute freue ich mich dieser Begegnung und des Hinweises auf diesen klassischen Schriftsteller mit seinem edlen Stil und Gedankengehalt. 1899 durften wir Zwei allein Wittenberg, wo Tante Laura Gibsone mit ihrer Tochter Ellen wohnte, dann Berlin, wo Herrmann als Assistent an der Charité unter dem damals bedeutenden und mit dem Vater befreundeten Kliniker Professor Gerhard tätig war, und schließlich Zeuden in der Nähe von Brandenburg besuchen, wo mein Vetter und Pate Willy Gibsone mit seiner Familie als Pfarrer amtierte. In der Familie waren auch zwei Mädchen in unserem Alter als Pensionstöchter aufgenommen, eine nicht gerade anziehende von Dietenbrook-Grüder und ein sehr anziehendes, stattliche Mädchen namens Krüger, die namentlich Benno sehr umschwärmte, während ich mehr mit Cis, der jüngsten Gibsone­Tochter, und mit Tom und Alexander, den zwei Söhnen, spielte. Cis war ein wildes Mädchen, mit dem ich viel zwischen den Stangenbohnen herumtollte und die ich gern „Hexe" nannte. Durch mich kam vier Jahre später auch mein Conleib Glarus zu Gibsones. 1913 verheiratete er sich mit Cis, worüber sich besonders der Vater Willy freute, während die etwas kritisch, spitzig und scharf urteilende Mutter Bertha ihren bescheidenen und unpraktisch-idealistischen Schwiegersohn, übrigens einen charakterlich vortrefflichen und wissenschaftlich gut ausgebildeten Juristen, den wir beide, Benno und ich, sehr schätzten, nie recht für voll und ernst nahm. Auch Cis, ihrer Mutter sehr ähnlich, sah in ihm mehr seine negativen Eigenschaften, die doch nach einem französischen Wort nur „les defaux de bonne egalitées" waren. - Eine dritte gemeinsame Fahrt, diesmal zu Rad, machten wir durch Württemberg ins Elsass. Ich glaube es war 1902 nach Bennos Abitur. Als nach Stuttgart bei einer Abfahrt Bennos Radkette brach, stimmte ich Blödling das Lied an „Wir sind die letzten Goten". Das ärgerte Benno aber sehr, ihm war dieses Missgeschick nur peinlich. Wir besuchten im Elsass namentlich die Schlachtfelder aus dem 70er Krieg in Weissenburg und Wöhrd. In Strassburg wohnten wir im Hotel „Schmutz", das aber, wie die ganze Stadt, sehr sauber war. Auch in Colmar waren wir, doch hatte damals noch niemand recht Sinn für den berühmten Isenheimer Altar von Grünewald. Ich lernte ihn erst genau 50 Jahre später dort kennen und bestaunen. Alles in allem war es eine recht schöne gemeinsame Radtour, an die wir immer gern zurückdachten.
      In lieber Erinnerung stehen mir auch die von den Eltern hergerichteten Weihnachts­feste. Als Kinder freuten wir uns in den Vorwochen über jeden silbernen Lamettastreifen am Boden als einen Gruss vom Haar des Christkinds. Noch steht mir vor Augen das heimliche Treiben um diese Zeit, wo wir unseren Brief an das Christkind mit unseren Wünschen vor das Fenster legten und dafür dort am nächsten Tag einen Lebkuchen für uns hingelegt fanden. Und dann überhaupt dieser herrlich süsse Duft von den zubereiteten Festbackereien. Wie gut schmeckte schon der unfertige Butter- oder Lebkuchenteig, von dem wir etwas heimlich stibitzten. Am Heiligabend warteten wir dann in der dunklen Vorstube, bis das Klingelzeichen der Mutter aus dem Nebenzimmer ertönte und wir als die Jüngsten voran unter dem Gesang des Liedes: „Ihr Kinderlein kommet" vor den strahlenden Christbaum mit seiner großen Krippe und dem Tisch, auf dem die Geschenke lagen, eintraten. Manchmal betrachteten wir nicht ohne geheimen Neid die Geschenke der anderen. Bennos Pate, Onkel Schwarz, war da sehr vornehm. Die Eltern aber zogen keinen von uns dabei vor. Da lag Spielzeug und irgendwelche besonderen Kleidungsstücke oder Mützen. Später, als wir älter waren, putzen wir immer mit Clär und Heiner den Baum und tranken dazu Punsch. Am zweiten Feiertag kamen dann die hier oder in Erlangen wohnenden, verheirateten Geschwister mit ihren Kindern und es wurde ihnen da beschert. Schön sind mir auch die Sylvesterabende in Erinnerung, wo der Vater gern eine kleine Ansprache hielt. An dem letzten Sylvesterabend, den wir mit ihm erlebten (1920), ist mir noch in Erinnerung, wie der Vater im Rückblick auf sein wahrhaftig nicht leichtes Leben die Verse aus Goethes Faust II zitierte: „Ihr glücklichen Augen, / was je ihr gesehen, / es sei, wie es wolle, / es war doch so schön!"
      So verging unsere Jugendzeit, nicht ganz ungetrübt, aber im ganzen doch schön, im Schoß einer großen, durch den Vater immer mehr zu Ansehen und zu bescheidenem Wohlstand ansteigenden Familie. Wir wussten uns alle in gleicher Weise geborgen und behütet. Des Vaters Liebling wurde immer mehr unsere zweite Schwester Emilie, gewöhn­lich „Mix" genannt, während Johannes gewöhnlich „Atz" gerufen wurde. Wenn wir zusammen waren, gab es meist ein großes Geschrei und Durcheinanderreden. Freilich, bei Anwesenheit des Vaters unterblieb es. Denn da hatten wir vor den Erwachsenen zu schweigen.
      Der erste und große, schwere Schlag traf die ganze Familie durch den frühen und überraschenden Tod unserer Schwester Emilie in Kiel. Sie war am 29. April 1903 an einer unheimlichen, rasch verlaufenden Leberzirrhose mit 33 1/2 Jahren gestorben und hinterließ neben ihrem Mann vier kleine Töchter zwischen sechs und einem halben Jahr. Wir alle, besonders die Eltern und voran der Vater, waren dadurch ganz verstört. Für den Vater war es darum auch ein besonders schwerer Schlag, weil er der Mix versprochen hatte, bei einer schweren Erkrankung sofort zu ihr zu kommen. Aber er brach sich gerade damals kurz zuvor den Arm und lag zu Bett. So konnten nur die beiden ältesten Brüder Hermann und Johannes an ihr Sterbelager kommen und Emilie äußerte sich noch bitter enttäuscht, dass es nicht der Vater war. Die Beerdigung hielt damals in Kiel der von meinem Schwager sehr geschätzte Generalsuperintendent Wallrot. Ich studierte damals noch in Erlangen, Benno in München. Ich rannte , zutiefst erschüttert , im Zimmer umher, bis ich schließlich zu meinem Neuen Testament griff und dort die Worte Jesu, Johannes 16,33, las: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.". Da überkam mich eine merkwürdige, geheimnisvolle Beruhigung. Es war mein erstes, großes Erlebnis mit der Heiligen Schrift. Die Ehe der Mix mit ihrem eigenwilligen, eifersüchtigen Mann war für sie und für unsere ganze Familie eine schwere Belastung. Es kam bei seiner Eifersucht so weit, dass er der Mutter und Clär das Betreten des Hauses zum größten Schmerz von Mix verbot. Beim Vater traute er sich das natürlich nicht. Doch war Emilie noch zweimal mit ihren Kindern nach Nürnberg gekommen.
      Das zweite Mal, dass der Tod in unseren Geschwisterkreis eingriff, war, als unser Bruder Heinrich, ein sehr geachteter Chemiker in der Agfa in Wulfen-Greppin im November 1916, 39 Jahre alt, starb. Er war wohl ein Opfer seiner Arbeit in der Herstellung des Giftgases Gelbkreuz geworden. Er hinterließ die junge Witwe mit drei kleinen Kindern von acht bis einem Jahr. Das traf den Vater auch besonders schwer, weil er sich in seinem Alter und bei der Entwicklung des Sohnes zu einem tüchtigen Chemiker und glücklichen Familienvater der übergroßen Strenge bewusst wurde, mit der er gerade diesem allerdings schwer erziehbaren und eigenwilligen Knaben gegenübergetreten war. Zu seiner Einäscherung, die in Leipzig stattfand, konnte er auch wegen seiner gefährdeten Gesundheit im Alter nicht kommen. Johannes und ich fuhren hin. Hermann stand im Feld als Armee-Pathologe und Benno lag schwer operiert in der hiesigen Methodisten-Klinik „Martha-Maria". Es war ihm kurz zuvor von dem bekannten Urologen und Chirurgen Dr. Ottmar Müller die linke Niere herausgenommen worden. Er hatte sich diese Tbc zugezogen, als er in Thorn beim Militär eingezogen war. Dr. Müller sagte damals zu meinem Vater: „Für fünf Jahre konnten wir jetzt voraussichtlich das Leben ihres Sohnes retten." Aus den fünf Jahren wurden dann dreizehn, allerdings gesundheitlich schwer gestörte Jahre von Mann und Frau. Letztere beide wurden erstmalig näher zusammengeführt bei der Hochzeit von Johannes mit Marie Volleth am 14. Mai 1904. Sie war, Pauline mit Rufnamen, die nächste Schwester von Marie, achtzehn Jahre alt, mit schönen großen Augen, von stattlicher Gestalt und lebhaften Geistes, ein ohne Zweifel sehr anziehendes Mädchen. Ich glaube, schon damals fing Benno Feuer. Beide ließen, trotz Widerstandes der Mutter Volleth, wie ich schon oben schrieb, nicht voneinander und heirateten am 14. April 1909. Sie wurden in der Lorenzkirche von Pfarrer Sucro getraut. Die Rede war etwas blumig, mit vielen Versen geschmückt. Seine Tischrede begann er damit, dass er nun bereits seinen „30jährigen Krieg" hinter sich habe, aber er könne aus dieser Erfahrung sagen, dass es um die Ehe ein gutes Ding sei. Ich habe damals mit Hermann Voit zusammen einen poetischen Dialog aufgeführt, bei dem wir den „Baron" (Benno) tüchtig aufs Korn nahmen. Dann zog das Paar nach der obligaten Hochzeitsreise in die neue Wohnung nach Elberfeld. Mit der Heirat Bennos trennten sich unsere Zwillingswege noch weiter. Er besuchte uns mit seiner Familie zweimal in Filke, einmal 1912 und dann 1914. Von seinem Ältesten, Hansl genannt, sagte er damals: „Er ist dumm, aber gut." Vor unserer kleinen Kirche flößte Benno dem Kind den größten Respekt ein, sodass der Bub, wenn er an der Kirche vorüberging, sich tief verneigte und die Mütze abnahm. Mich frug der Junge einmal, als er mich die Pfeife rauchen sah: „Onkel, was tust du denn da mit dieser Flöte?" Als wir beide, Benno und ich, am 29. August 1914 in Fladungen von der Ermordung des Österreichischen Erzherzogs in Sarajewo erfuhren, sagten wir beide wie aus einem Munde: „Das bedeutet den Krieg." Wir waren damals zu zweit auf einer Fußwanderung zur Wasserkuppe und Milseburg in der Rhön. Benno schenkte uns danach ein wunderschönes Meißener Kaffeeservice, das wir noch heute haben und das jedermanns Bewunderung erregt, wenn wir es einmal wieder benützen.
      Ich bin verschiedentlich in Elberfeld bei Benno gewesen, namentlich zu den Taufen der drei Söhne (1910, 1912, 1914), die ich selbst vorgenommen hatte, aber auch in den zwanziger Jahren. Dabei habe ich immer beobachtet, wie sehr er bei Hoch und Niedrig gleichermaßen geschätzt und anerkannt wurde, so dass man ihm eine große Zukunft verheißen konnte. Er hatte damals auch das Adalin erfunden und dafür eine Tantieme von 15.000,-- Mark bekommen. Hätte er länger gelebt, so wäre er gewiss in eine leitende Stellung hineingekommen. Ich habe in seinem Hause manche vortreffliche, auch einfachere Menschen kennengelernt, die mir noch heute in lebendiger und bester Erinnerung stehen. Er war auch in einer Loge und hatte sich, da ihm der Wuppertaler Pietismus nicht zusagte, einer freien evangelischen Gemeinde angeschlossen. Diese wurde (auch gottesdienstlich) von dem liberalen Pfarrer Nack aus Köln bedient. Das war ein äußerst versierter und gewandter Redner. Er ließ mich aber kalt und ich fand keine nähere Beziehung zu ihm. Er gehörte nicht gerade zu den Freunden Jathos in Köln, trat aber für ihn ein. Seine ganze Richtung war mir zu intellektuell und zu säkularisiert. Aber Benno ließ alle seine drei Söhne von Nack, der auch öfters ins Haus kam, konfirmieren. Ihre Gottesdienste hielten sie vierzehntägig in einem Saal des Realgymnasiums. Es war alles Kultur-Protestantismus in reinster Form, erhielt aber doch so manche Naturwissenschaftler und sonstige Gebildete in Verbindung mit der Kirche. Auch das darf man nicht verachten, wie es die anderen Kirchgänger oder Gemeinschaftsleute gern taten. Nirgends gibt es mehr Pharisäer als in diesen Kreisen, so trefflich und fromm und kirchlich zuverlässig einzelne dabei sind. Von Geyer und Rittelmeyer her war ich ganz anderes gewöhnt als hier in Elberfeld. Diese waren weit und fromm zugleich und befriedigten Herz und Gemüt im Verein mit höchster geistiger Bildung viel mehr, als die nord- und mitteldeutschen, liberalen Amtsbrüder, bei denen im allgemeinen der Geist hypertrophiert und das Herz unterernährt blieb. Freilich lässt sich Kirche und Gemeinde ohne pietistische Kreise nicht bauen; aber zugleich bringt ihr Übergewicht und ihre Überbetonung die Kirche in die Gefahr der Weltfremdheit und des Ghettos, beziehungsweise der Engigkeit und Dumpfheit. Wie schön ist dagegen Geyers Ausspruch: „Die Blume der Religion gedeiht nur im Sonnenschein der Freiheit." Freilich steht die Freiheit immer in der Gefahr, ohne die Zucht der kirchlichen Lehre in Zügellosigkeit und innere Anarchie auszuarten. Paulus mahnt mit Recht wiederholt an die Verbundenheit von Liebe und Erkenntnis. Leider wird aber Kirchlichkeit und Christlichkeit im allgemeinen in und außerhalb der Kirche nach der Gemeinschaftsfrömmigkeit beurteilt und behandelt. Hier ist Geyers Vorbild und Wirken zukunftsweisend. Jetzt bemühen sich darum auch die theologischen Akademien und die Kirchentage, obwohl letztere zu viel nach Art der Massenmedien wirken.
      Der Tod von Benno am 25. Oktober 1929 trennte mich für immer von meinem Zwillingsbruder und hat mich schwer erschüttert. Bei seiner Einäscherung in Hagen hielt ich ihm die Leichenrede. Etwa um 1933, nachdem alle drei Söhne die Schule absolviert hatten und zum Studium auswärts waren, zog meine Schwägerin Pauline wieder nach Nürnberg in die alte Heimatstadt. Sie wohnte zuerst in der Lutzstraße, dann in der Schlegelstraße , in der Nähe von Johannes in Erlenstegen. Wir kamen oft zusammen und sie hatte in ihrem für alle Gebiete des Lebens lebhaft interessierten Geist immer viele Fragen, die wir miteinander besprachen. Es war stets ein schönes und erquickliches Zusammensein. Erst ganz allmählich und langsam setzte gegen Ende der fünfziger Jahre (etwa 1957) ihr eine beginnende Gehirnsklerose mehr und mehr zu. Schon früher litt sie verschiedentlich an mehr oder minder schweren Depressionen, die ab und zu ihre Überführung in ein Sanatorium nötig machten. Aber es ging immer wieder vorüber und man merkte ihr im Zusammensein nichts an. Jetzt wurde es aber mit ihr immer schlechter. Nach einer vorübergehenden Verbringung ins hiesige Krankenhaus und einem einjährigen Aufenthalt in einer Heilanstalt in Göppingen in Württemberg wohnte sie zuerst bei ihrem ältesten Sohn in Darmstadt und zog dann dort in ein Altersheim der Inneren Mission, wo sie zuletzt im dortigen Pflegeheim sehr gut untergebracht und verpflegt worden war. Am 23. Juli 1966 ist sie dort überraschend gestorben. Vorher hatte sie noch einen Oberschenkelhalsbruch erlitten. Er war gut verheilt, aber ihr Lebenswille und ihre Teilnahme am Leben waren fast völlig erloschen. Ihre Urne haben wir neben der von Benno im elterlichen (früher Held'schen) Grab im Johannisfriedhof hier (Nr. I/21) am 15. August d.J. beigesetzt.
      Ein großes Geschenk ist uns bis heute das gute, freundschaftliche Verhältnis zu ihren drei Söhnen und deren Familien, wie Benno und Pauline auch allezeit sehr herzlich mit meiner Frau verbunden waren. Ich erinnere nur dabei an die reizende Geschichte bei unserer Hochzeit am 25. September 1910, wo Benno als alter Nürnberger Bürger entzückende Verse vortrug. So war unser Leben zu zweit als Zwillinge in Haus und Familie ein schön gesegnetes, wofür wir Gott allezeit herzlich bankbar sein wollen, von keinem Neid und keiner Erbitterung je getrübt, in gegenseitiger Anerkennung und Liebe. „Kein Neid, kein Streit euch betrübe, Fried' und Liebe sollen schweben, Fried' und Freude wirst du geben."
      Die Kinder und Enkel möchte ich für die Zukunft mit Goethes „Geistesgruß" grüßen:

      Hoch auf dem Turme steht Sieh, diese Sonne war so stark,
      des Helden edler Geist dies Herz so fest und wild,
      der, wie das Schiff vorübergeht die Knochen voll von Rittermark,
      es wohl zu fahren heißt. die Becher angefüllt.
      Mein halbes Leben stürmt ich fort,
      verdehnt' die Hälft' in Ruh,
      und du, du Menschenschifflein dort
      fahr' immer, immer zu!
      Geschrieben im Oktober 1966
      (In meinem 85. Lebensjahr) Georg Merkel
      Abgeschrieben, gelesen und korrigiert: 27.11.1995 gez. Fiedrich
      c:\winword\georg3.doc
    Familien-Kennung F53  Familienblatt  |  Familientafel

    Familie 1 Anneliese KAHLE,   geb. 17 Feb 1910   gest. 05 Nov 1962, Darmstadt,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort (Alter 52 Jahre) 
    Eheschließung 30 Mrz 1937 
    Kinder 
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     2. Suse MERKEL,   geb. 16 Jul 1941, Darmstadt,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ortgest. 04 Apr 1977, Las Palmas,,,,, Suche alle Personen mit Ereignissen an diesem Ort (Alter 35 Jahre)
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    Familien-Kennung F126  Familienblatt  |  Familientafel

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    Zuletzt bearbeitet am 19 Dez 1998 
    Familien-Kennung F127  Familienblatt  |  Familientafel

  • Notizen 
    • PWM 5-1.9.9.1.;